Die nächtliche Radl-Tour

Es war einmal, nein, keine Fabel, sondern die Realität. Ich wurde sehr sportlich erzogen, besser gesagt, gedrillt. Mein Vater wollte wohl beweisen, dass auch ein Veganer zu Höchstleistungen imstande ist. Er war bereits zu alt, um die 40 Jahre, und hatte beruflich kaum Zeit für Training, also wurde ich als Kind, das gerade in die Pubertät kam, stark gefordert. Für mich war das normal, da ich nichts anderes kannte.

Meine Mutter war völlig unsportlich, also lag es an mir, die Erwartungen meines Vaters zu erfüllen. Er träumte davon, dass ich im Frauenradsport Erfolg haben könnte. Er übernahm die Rolle des Trainers und trieb mich durch die Berliner Bezirke, natürlich beide auf dem Rad. An guten Tagen waren es bis zu 50 km pro Tour. Nach der Schule begann das straffe Programm. Am Abend mussten dann noch die Hausaufgaben erledigt werden. Ursprünglich sollte ich nicht zur Schule gehen, da meine Eltern mich selbst unterrichten wollten, doch sie scheiterten an den Behörden.

Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind und später als Teenager richtige Muskelpakete an den Oberschenkeln hatte, was ziemlich beeindruckend war. Als junge Frau hatte ich dann sehr schön definierte Beine, die mir mein Leben lang erhalten blieben, zwar ohne die Muskelpakete, aber ich war mit ihrem Aussehen sehr zufrieden.

Täglich ging es raus, bei jedem Wetter. Wenn ich nicht Rad fuhr, war ich im Schwimmbad. Schwimmen war mein Leben, Wasser ist mein Leben, und wenn ich diese Welt verlasse, möchte ich, dass meine Asche im Wasser verstreut wird, es sei denn, meine Kinder überreden mich zu einer Waldbestattung. Ich möchte niemandem zur Last fallen. Sie sollen sich nicht um ein Grab kümmern müssen, nur weil es die Gemeinde erwartet. Ich denke, ich werde dieses Thema sicher noch einmal ansprechen.

Ich war nie allein, immer in Begleitung meines Vaters, aber dazu später mehr.

Wir waren wieder beim Training. Ich erinnere mich nur, dass wir es nicht vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause geschafft haben. Eine Fehlplanung meines Vaters; er war nicht perfekt, heute würde ich sagen höchstens 50 %.

Auf dem Heimweg überraschte uns die Dunkelheit. Wie so oft funktionierte mein Rücklicht nicht. Also musste ich vorne fahren, damit er mir "Rückendeckung" geben konnte. Eine traumhafte Strecke durch einen Wald, der kein Ende zu nehmen schien. Tagsüber traumhaft, bei Nacht stockdunkel und angsteinflößend. Ich höre noch seine Worte, die mir alles abverlangten. Heute denke ich, er hatte auch Angst.

Keine Ahnung, wie lange ich gestrampelt bin, als mein Vater plötzlich von hinten recht panisch schrie: "Strampeln, schneller!" Meine Zunge hing mir schon auf dem Boden.

Irgendwann war er neben mir und fing an, mich zu schieben, weil ich ihm zu langsam war.

"Wir werden verfolgt", schrie er mir ins Ohr, was meine sämtlichen Reserven mobilisierte und mich zu ungeahnten Fähigkeiten trieb.

Ich habe keine Ahnung, wie viele Kilometer wir zurückgelegt haben. Irgendwann warf ich einen kurzen Blick zurück und sah tatsächlich ein Licht, eine kleine Lampe, die uns folgte. Nachdem ich dieses Licht bemerkt hatte, schaute ich häufiger zurück, es kam immer näher … Panik, was ist Panik? Als Kind kennt man keine Panik, nur Angst, reine Angst, die mich dazu trieb, in die Pedale zu treten.

Schließlich wurde vor uns ein Licht sichtbar. Wir erreichten wieder bewohntes Gebiet. Die Lichter der Straßenlaternen rückten langsam näher.

Wir hatten es geschafft. Endlich wieder Häuser, Straßenlaternen, Autos, Menschen. Durchatmen, vom Fahrrad absteigen, tief Luft holen, den Blick zurück zum Wald, das Licht kam langsam näher, immer näher.

Ein Fahrrad, das mit meinem nicht im Geringsten zu vergleichen war, näherte sich uns.

Ein Junge in meinem Alter hielt keuchend an unserer Seite an. Er wäre beinahe vom Rad gefallen, mein Vater fing ihn gerade noch auf.

Es stellte sich heraus … er hatte genauso viel Angst wie wir. Er wollte uns einholen, damit er nicht allein durch den unheimlichen Wald fahren musste. Toll.

Der Junge tat mir unglaublich leid, insgeheim machte ich meinen Vater für seine Angst verantwortlich. Er tut mir heute noch leid. Ich denke, auch er wird sich in stillen Momenten an diese Begebenheit erinnern.