Rouven

 

Mein erstgeborener Sohn, das erste Kind aus meiner Ehe mit seinem Vater Günther, der 1998 verstarb, war ein lebendiger und manchmal herausfordernder Junge. Sein Vater und ich  waren beinahe 25 Jahre verheiratet. Die Streiche von Sohn I waren harmlos im Vergleich zu denen heutiger Jugendlicher, bringen mich heute zum Lachen, obwohl sie mir einst Sorgen bereiteten. Er erlitt einige Unfälle, teils durch eigenes Verschulden, teils durch das anderer, einschließlich mir. Die Streiche zwischen den Kindern waren ebenfalls Quelle mancher Aufregung.

Bereits als Säugling hatte Sohn I viel zu erdulden. Wer ist verantwortlich? Ich selbst, oder äußere Umstände? Drei Unfälle, die anders hätten ausgehen können, und zweimal waren wir in einen Unfall verwickelt, bei dem eine Aktentasche eine Rolle spielte.

Als mein Sohn I zur Welt kam, lebten wir vorübergehend in einer Berliner Altbauwohnung. Die Räume waren hoch und dunkel, der Grundriss verwinkelt. Es gab sogenannte Durchgangszimmer mit klemmenden Türen und defekten Schlössern. Da ich stets einen Hund besaß, pflegte ich, einige Türen geschlossen zu halten, wenn ich die Wohnung verließ. Der Hund durfte nicht in meiner Abwesenheit alle Zimmer erkunden, insbesondere das Kinderzimmer war für ihn tabu.

Wir waren bereit, das Haus zu verlassen. Sohn I lag in seiner Tragetasche. Als ich das Kinderzimmer verließ, hielt ich die Tragetasche in einer Hand und versuchte mit der anderen, die klemmende Tür zu schließen, was mir jedoch nicht gelang. Also verlagerte ich mein Gewicht auf das Bein auf derselben Seite, auf der ich die Tasche hielt. Das war zum Scheitern verurteilt. Heute ist mir das bewusst, damals jedoch nicht, zumal noch ein unvorhersehbarer Umstand hinzukam.

Also zog ich an der Klinke mit meinem gesamten Gewicht, was kurz nach der Entbindung noch viel zu hoch war. Es ging so schnell, ich hatte die Klinke in der Hand und lag auf der Erde, mit meinem Ellenbogen meinte ich den Bauch vom Rouven getroffen zu haben.  Rouven schrie, mir rutschte das Herz in die Hose und ich rannte zum Telefon den Sanker zu rufen. Nach gefühlter Ewigkeit kam der Sanker mit Notarzt und beachte uns beide in die Kinderklinik.

Nach diversen Untersuchungen kam die erlösende Entwarnung. Alles glimpflich verlaufen. Die Türklinke wurde repariert, alles gut.

Der 2. Unfall mit dieser Tragetasche ließ nicht lange auf sich warten. Ich besaß damals einen VW Käfer. Wenn ich also unterwegs war, saßen meine Tochter, 6 Jahre älter als Sohn Rouven, er in der Tragetasche auf der Rückbank. Wer die alten Käfer kennt, wie man da hineingeklettert ist. Ich habe die Tragetasche immer von der Beifahrerseite ins Auto geladen. Tür auf, Beifahrersitz nach vorne klappen und dann die Tasche, leicht angekippt, auf die Rückbank verfrachtet. Das hat immer geklappt, ohne irgendwelche Probleme. Dies bis zu diesem Tag, als mir beim Rein hieven der Tasche ein Taschenhenkel abgerissen ist und Junior erst halb in den rückwärtigen Fußraum und von da aus in den Rinnstein zwischen Auto und Bordstein gefallen ist.

Alles gut verlaufen, ein paar blaue Flecken. Aber diese Schreckensmomente braucht kein Mensch.

Aber nicht lange, dann brauchten wir keine Tasche mehr, hätte sowieso keine weitere gekauft. 

Der nächste Unfall, war so gesehen kein Unfall, hätte aber auch anders ausgegebenen können.

Zur damaligen Zeit gab es noch keine Schlafsäcke, diese kamen gerade erst in die Geschäfte. Baby und Kleinkind trugen so Art "Jogging Anzug" alle Bündchen waren mit Gummizug versehen. Eines Morgens holte ich Sohn 1 aus seinem Bettchen. Ein Hosenbein war bis zum Schritt hochgezogen, das Bein völlig blau angelaufen. Er hatte sich im Schlaf das Hosenbein hochgezogen und durch die Enge in der Leiste eine Arterie abgeklemmt. Alles gut verlaufen, er hat nie wieder solche Teile mit Gummizug gehabt. Habe mir das Geld für Schlafsäcke ans Bein gebunden.

Ein paar Jahre sind dann vergangen. Einschulung war. 

Wir hatten zu der Zeit einen relativ jungen Schäferhund, wohnten mittlerweile nun in Oberbayern in einem gemieteten Haus mit Garten.

Mein Mann, Fernfahrer im internationalen Fernverkehr, war teilweise 8 Wochen nicht daheim. Dieses besagte Wochenende war er mal zu Hause. Wir wohnten jetzt wirklich auf dem Lande, ein Dorf, 1 Telefonzelle, kleine Kirche, das war es. Gute Bekannte ca.5 km entfernt hatten Ihren Wohnwagen auf die Seite gelegt, um irgendwelche Reparaturen daran zu tätigen. Irgendwann klingelte das Telefon … kommt Ihr schnell mal rüber, wir wollen Wohnwagen wieder auf die Füße stellen. Da meine Tochter 6 Jahre älter war wie der Rouven, sollte sie mal für eine halbe Stunde auf die beiden Jungs (Sohn2 war 1978) aufpassen.

Kaum bei den Bekannten klingelte das Telefon, meine Tochter am Telefon, heulend, Rotz und Wasser, man konnte sie kaum verstehen, kommt sofort nach Hause, Rouven hatte einen Unfall.

So schnell waren wir diese Strecke noch nie gefahren.

Zu Hause war mein Sohn I beim Nachbarn, gut gelaunt, zwar etwas blass, aber sonst außer dem Verband der die Hand, die verbunden hatte, mit Maßgabe sofort zum Arzt zu fahren, recht gut drauf. Er stand unter Schock, hatte keine Schmerzen. Aber keiner konnte uns genau sagen, was passiert war.

Auf dem Weg zum Arzt, konnte meine Tochter, die sich etwas beruhigt hatte. Endlich zur Aufklärung beitragen. Sie fühlte sich schuldig, sie hatte ein paar Minuten nicht aufgepasst. Ihr konnte man keinen Vorwurf machen, wir hatten nicht beide fahren dürfen, ich hätte bei den Kindern bleiben müssen.

Wir hatten uns damals einen Hometrainer zugelegt. Das Teil hatte hinten dieses Schwungrad mit konisch zulaufenden 5 Speichen. Die Kinder turnen auf dem Hometrainer herum.  Der Sohn 2  hat stehend in die Pedalen getreten. Rouven setzte sich neben das Schwungrad und versuchte dann mit dem Zeigefinger das sich schnell drehende Schwungrad zu stoppen.

Dies mit dem Resultat, das 1. Fingerglied war fast komplett amputiert. Das amputierte Glied war nicht mehr auffindbar. Wir denken, hat der Hund gefressen.

Da das dies an der rechten Hand war, fing das 1. Schuljahr gut an, schreiben lernen mit Hindernissen.

Das restliche Glied wurde noch 2x operativ gekürzt, bis endlich eine befriedigende Amputation vorlag. War ein recht langer Prozess, in dem der Rouven bat, den kompletten Finger zu entfernen. Schmerzen und viele Unpässlichkeiten haben ihn dazu getrieben.

Nein, der Zeigefinger wurde so weit gekürzt, dass ein befriedigendes Ergebnis entstand, mit dem er sich arrangieren konnte.

 

Fortsetzung folgt